Schwere spezifische Leistungsbehinderung

Erwerbsunfähig ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein kann. Der allgemeine Arbeitsmarkt umfasst sämtliche Tätigkeiten, die berufsmäßig ausgeübt werden, also auch einfachste Arbeiten. Solange ein Restleistungsvermögen noch besteht, muss sich ein Versicherter auf jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen und ggf. auch einen sozialen Abstieg in Kauf nehmen. Auf die Lage am Arbeitsmarkt kommt es nicht an. Es gibt aber Fälle, in denen trotz gesundheitlicher Leistungsfähigkeit die Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente bestehen. Ein wichtiger Fall ist die Gebrauchsunfähigkeit einer Hand, z.B. durch Arthrose oder gar eines ganzen Armes. Kennzeichnend ist, dass jemand zwar - allgemein betrachtet - noch erwerbstätig sein könnte, aber aufgrund bestimmter Einschränkungen gehindert ist, selbst einfachste Tätigkeiten berufsmäßig auszuüben.

  • Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat entschieden, dass ein Versicherter, der die rechte Hand und den rechten Arm funktional nicht mehr einsetzen kann und faktisch einarmig ist, nicht mehr regelmäßig Geräte wie Telefonhörer halten und auch nicht mehr normal Schreiben oder Schlüssel betätigen kann. Das LSG lehnte es auch ab, den Versicherten auf eine Tätigkeit als Pförtner an einer Nebenpforte oder auf eine Tätigkeit als Museumswärter oder Museumsaufsicht zu verweisen. Eine Pförtnertätigkeit können zwar einarmig ausgeübt werden. Jedenfalls dann, wenn nicht die Haupthand, sondern die Hilfshand betroffen ist. Anders liegt der Fall, wenn die (bisherige) Haupthand nur noch stark eingeschränkt funktionsfähig ist und damit allenfalls noch als Beihand eingesetzt werden kann. Ein Pförtner hat nicht nur ein- und ausgehende Personen oder ein- und ausfahrende Fahrzeuge zu kontrollieren, sondern auch Schreibarbeiten zu verrichten. Dies können nicht mit der verbliebenen linken Hand bewältigt werden. Jedenfalls sind Schreibarbeiten in einem in der Arbeitswirklichkeit gewöhnlich geforderten Tempo ausgeschlossen. Auch auf eine Tätigkeit als Museumswärter könne nicht verwiesen werden. Denn Tätigkeiten als Museumswärter erfordern regelmäßig die Fähigkeit, Leitern zu besteigen und kurzfristig auf Leitern arbeiten zu können; hinzu kommen regelmäßig Verkaufstätigkeiten und Mithilfen beim Transport und bei der Verwahrung von Objekten (LSG Baden-Württemberg - 26.03.2010 - L 4 R 3765/08).
  • Eine weitere Fallgruppe sind z.B. Sehstörungen: Ist nur die Sehfähigkeit eines Auges aufgehoben, aber das andere Auge voll funktionstüchtig ist, muss zumindest geprüft werden, ob trotz der Aufhebung des räumlichen Sehens noch körperlich leichte und fachlich einfache Arbeiten, wie sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, z.B. am Fließband oder im Akkord angeboten werden, möglich sind. Denn gerade beim Kontrollieren und Prüfen von Waren ist ein exaktes Sehvermögen Voraussetzung (Bundessozialgericht - 23.05.2006 - B 13 RJ 38/05 R).
  • Rentenversicherungsträger müssen in bestimmten Fällen Verweisungstätigkeiten benennen. In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist es anerkannt, dass Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit (z.B. durch Muskelverletzungen oder Arthrose) eine schwere spezifische Leistungsbehinderung darstellen können. In einem solchen Fall sind Zweifel angebracht, ob die betreffende Person unter den Bedingungen eines Betriebes noch konkurrenzfähig eingesetzt werden kann. Das BSG hat in diesem Zusammenhang in einem Urteil vom 28.08.1991 (13/5 Rj 47/90) entschieden, dass der Rentenversicherungsträger bei der Prüfung einer Erwerbsminderungsrente die Pflicht hat, eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen, wenn die Arbeitsfähigkeit der oder des Versicherten durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist, weil dann wieder fraglich wird, ob es Tätigkeiten gibt, deren Anforderungen sie oder er gewachsen ist. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung zwingt zur konkreten Benennung. Diese Anforderung wird in Rentenverfahren nicht selten missachtet. Selbst wenn fachmedizinische Gutachten feststellen, dass z.B. die Gebrauchsfähigkeit einer Hand stark eingeschränkt ist, kommen sie oft zu dem Ergebnis, dass auch unter Berücksichtigung aller Einschränkungen noch berufliche Tätigkeiten im Umfang von mehr als 6 Stunden täglich ausgeübt werden können. Um welche Art von Tätigkeiten es sich dabei handelt, bleibt mitunter offen. Es ist allerdings auch nicht unbedingt Aufgabe des Arztes, solche Tätigkeiten zu benennen, denn der Arzt muss nicht zwangsläufig über berufskundliche Kenntnisse verfügen. Allerdings ist der Rentenversicherungsträger in der Pflicht, eine Verweisungstätigkeit zu benennen. Dies geschieht oftmals jedoch nicht. Vielmehr wird der Rentenantrag mit der Begründung abgelehnt, dass noch eine vollschichtige Leistungsfähigkeit besteht, ohne näher auszuführen, um welche Tätigkeiten es konkret geht. Ein solches Vorgehen ist rechtswidrig. Die Verweisungstätigkeit darf auch nicht bloß als „Sammelbezeichnung“ benannt werden (z.B. „Pförtner“). Der Rentenversicherungsträger hat vielmehr die Pflicht, die für die benannte Tätigkeit erforderlichen Befähigungen, Kenntnisse und Anforderungen im Einzelnen näher zu konkretisieren. Dazu ist ein typischer Arbeitsplatz mit der üblichen Berufsbezeichnung zu benennen.